Freitag, 21. Oktober 2022

David Bowie - Ereigniskarte II










Ziemlich bald nach "Aladdin Sane" besaß ich die LP "Images", auf der Bowies prä-"Space Oddity"-Aufnahmen für das Deram-Label versammelt waren, alle Songs auf dem Cover mit bunter Zeichnung illustriert. "The Laughing Gnome" und der Friedhofsmonolog von "Please Mr. Gravedigger", Duett für verschnupfte Stimme und sound effects, dazwischen eine Anthologie wunderlicher Charaktere, seltsam old-fashioned anmutend, Bowies Old Curiosity Shop, aber mit Bildern, die mich nicht mehr losließen, wie das schöne einsame Mannequin aus "Maid Of Bond Street":

This girl is a lonely girl
Takes the train from Paddington to Oxford Circus
Buys the Daily News
But passengers don't smile at her, oh no, don't smile at her.

Oder die little backward steps aus "Sell Me A Coat":

A winter's day, a bitter snowflake on my face
My summer girl takes little backward steps away

Bowies Method Acting als mädchenmörderischer Grabschaufler war nicht gerade Erbauungsliteratur, aber extrem beeindruckend. Ich schulte daran mein Cockney-Englisch und trug in der 8. oder 9. Klasse Passagen aus "Please Mr. Gravedigger" in den Pausen vor. Half meinem Ruf als liebenswürdig aber spooky ganz ungemein.

Mikro-Epen von schräger Theatralik, die durch alle Ritzen fielen, charmant bis faszinierend bis wunderschön. (Bis unwiderstehlich: "In The Heat Of The Morning", 2008 von Alex Turner folgerichtig für The Last Shadow Puppets gekapert.) Themen, die wiederkehren würden: gender-Verwirrung ("She's Got Medals"), messianische Figuren in apokalyptischen Szenarien ("We Are Hungry Men"), spirituelle Suche: zwei Songs ("Silly Boy Blue", "Karma Man") künden von Bowies Interesse an Tibetanischem Buddhismus. Harrers "Seven Years in Tibet" hatte er im Anschluß an Kerouacs "The Dharma Bums" schon als Teenager verschlungen. Bowie verstand Buddhismus als "a process of self-discovery, of discovering the truth for oneself." - "Silly Boy Blue" ist auf einfache Weise fremdartig schön, und Bowie singt Zeilen wie "Yak butter statues that melt in the sun" vollkommen unbeirrt und absolutely gorgeous.






And I'm floating in a most peculiar way
And the stars look very different today
For here am I sitting in a tin can
Far above the world
Planet Earth is blue
And there's nothing I can do

Bowie schreibt "Space Oddity" um Weihnachten 1968. Apollo 8 erreicht am 24. Dezember die Mondumlaufbahn, Astronaut Anders macht mit einer Hasselblad 500 das -> Earthrise-Foto - die Erde, kalt und blau und allein.

Natürlich sieht Bowie Stanley Kubricks "2001 - A Space Odyssey" im Sommer 1968 x-mal. Irgendwann in dieser Zeit "a flirtation with smack". Die Actrice mit dem preziösen, geradezu vernunftwidrigen Pseudonym Hermione Farthingale beendet die turbulente Liebesbeziehung mit Bowie. Einen Tag danach entsteht die erste Version von "Space Oddity". Mirakulös, wie Bowie es schafft, bei all der Komplexität und all den Akkordwechseln des Songs die Leere und Stille des Weltraums zum Basiseffekt der Musik zu machen.


















 





SPIEGEL ONLINE Forum "Elvis - immer noch der King?"

August 2008





eigentlicher_Schwan:
... aber der Einfluss von Bowie geht so weit, ...





Christian Erdmann:
"There is old wave, there is new wave, and there is David Bowie", sagte schon Aischylos. Endlich mal ein Bowie-Rühmer. Zum Haarölpieseln, wie der Mann in der Regel aus den falschen Gründen gerühmt oder gleich ganz ignoriert wird. Was ist das nur für eine Welt. Sterndeuter anwesend? Bowie und Elvis haben beide am 8. Januar Geburtstag. Gute Ecke da: Scott Walker und Jimmy Page 9. Januar, Blixa Bargeld 12. Januar. Ziemlich revolutionäres Potential beim angeblich so conservativen Capricorn.





eigentlicher_Schwan:
Endlich mal jemand, der mir zustimmt, nicht widerspricht!
Ich glaube das Älterwerden ist anstrengend für einen Popstar. Bowie hat es super gelöst, könnte man meinen...





Christian Erdmann:
Vielleicht, weil er sich nie als Popstar verstanden hat? Das wäre ja eben einer der falschen Gründe. Stunning looks, Bisexualität, Ziggy Stardust, alles geschenkt, kommt nur eben so ein Film wie "Velvet Goldmine" dabei raus. Guter Film vielleicht, hat nur letztlich wenig mit Bowie (oder Iggy) zu tun. Und wenn man weiß, wo "Low" herkam, - dagegen produziert die Gothicfraktion das muntere Geschnatter von Internatsschülerinnen. - Sicher konnte Bowie ja immer beides zugleich, im Abgrund sein und Drüberstehen, sicher konnte er mit allem immer auch spielen, aber am besten war er ja immer dann, wenn soul searching und Sinnsuche sein Großmeistertum übernahmen, "Station To Station" zB, von Manierismus ist das alles ziemlich weit entfernt.





eigentlicher_Schwan:
Ja, vielleicht. Etwa so wie ich meinte, er wäre viel souveräner als Elvis.
"Station To Station" liegt bei mir seit vielen Jahren rum, wenig gehört. Vielleicht liegt's daran, dass ich zu der Zeit dann doch eher Kraftwerk oder Brian Eno gehört habe :o)
Memo: Finde soul searching im Frühwerk!





Christian Erdmann:
Bei "Word On A Wing" beginnen, über "Quicksand" gehen, Ereigniskarte ziehen: "Lady Grinning Soul", eigentlich immer schon mein Favorit von "Aladdin Sane" (neben "Aladdin Sane" selbst), erschien auch gerade auf einer UK-Kompilation, die Bowie selbst zusammengestellt hat, seine eigenen favourites also. Darauf ist auch "Some Are", ein Track, der während der Arbeit zu "Low" entstand, "Desolation Row" in vier Zeilen, von einem Berliner Fenster aus.





eigentlicher_Schwan:
Bei "Word On A Wing" beginnen, über "Quicksand" gehen, Ereigniskarte ziehen... 
Ich seh schon, das ist die Glückskarte! Ein echter Bowie-Kenner! Thx!
"Aladdin Sane" hatte meine große Schwester, das war wohl meine Küchenschrankkante... :-)




Christian Erdmann:
Verstehe.









"The cries of wolves in the background are sounds that you might not pick up on immediately. Unless you're a wolf."  - Bowie






I'm closer to the Golden Dawn
Immersed in Crowley's uniform of imagery
I'm living in a silent film
Portraying Himmler's sacred realm of dream reality
I'm frightened by the total goal
I'm drawing to the ragged hole
And I ain't got the power anymore
No I ain't got the power anymore

I'm the twisted name on Garbo's eyes
Living proof of Churchill's lies
I'm destiny
I'm torn between the light and dark
Where others see their target
Divine symmetry
Should I kiss the viper's fang
Or herald loud the death of Man
I'm sinking in the quicksand of my thought
And I ain't got the power anymore

Don't believe in yourself
Don't deceive with belief
Knowledge comes with death's release

I'm not a prophet or a stone age man
Just a mortal with potential of a superman
I'm living on
I'm tethered to the logic of Homo Sapien
Can't take my eyes from the great salvation of bullshit faith
If I don't explain what you ought to know
You can tell me all about it on the next Bardo
I'm sinking in the quicksand of my thought
And I ain't got the power anymore.
 








1997: "I have found over these last few years, that the one continuum that is throughout my writing is a real simple, spiritual search."

Aleister Crowley und der Hermetic Order of the Golden Dawn, dem Crowley angehörte; Nietzsche-Obsession und der Übermensch; "Himmler's sacred realm of dream reality": was Bowie schon 1971 als sinking in the quicksand of my thought erlebt, treibt 1975 den Thin White Duke, Bowie also zu jener Zeit, da er sich nur noch von Milch, roter Paprika und Tonnen von Kokain ernährt, noch tiefer in esoterische Mythologie, sein Wohnsitz in L.A. das Hauptquartier eskalierender Magick. "Don't look at the carpet / I drew something awful on it" ("Breaking Glass", 1977). Bowie zeichnet Pentagramme an die Wände und - wie auf dem back cover der "Station To Station"-CD zu sehen - den kabbalistischen Baum der Sephiroth auf Fußböden. Der Dichter in Cocteaus "Le sang d'un poète" springt durch einen Spiegel, Bowie erschafft sich Durchgänge auf magische Weise:

"I took it all most seriously, ha ha ha! I drew gateways into different dimensions, and I'm quite sure that, for myself, I really walked into other worlds. I drew things on walls and just walked through them, and saw what was on the other side!" - Bowie, NME Interview, 1997.

Nichts bezeichnender als dieses most seriously, ha ha ha. Wie -> nebenan geschrieben:

"Zu Bowies Ungreifbarkeit trägt bei, daß er zu zwei Arten von Interviews neigt: ein ur-englisches an-die-Nase-Tippen, das sagt, haha, war alles nur Spaß, oder aber eine Art, über seine Kunst zu reden, die klarmacht, daß alles noch viel tiefer ging, als wir dachten."

Das Interesse an den Nazis in Bowies Kabbala-Artus-Phase Mitte der Siebziger ist nicht politisch, sondern gilt der okkulten Seite der Nazimythologie, ihrer Suche nach dem Heiligen Gral. Du mußt mal was essen, Mann, sagt sein Gitarrist Carlos Alomar zu Bowie, "der weißeste Mann, den ich je gesehen hatte", durchscheinend weiß, der nach Alomars Schätzung nur noch 44 Kilo wiegt. Allerdings geht Alomar mit Zahlen flexibel um; über das Feedback von Earl Slicks Gitarre am Anfang von "Station To Station" sagt er: "Earl Slick was asked to do something that was unnatural and that was, 'I want you to sustain a note for, like, 15 years.'"

The return of the Thin White Duke, throwing darts in lovers' eyes.
Here are we, one magical moment
Such is the stuff from where dreams are woven
Bending sound
Dredging the ocean lost in my circle
Here am I
Flashing no colour, tall in this room overlooking the ocean
Here are we, one magical movement from Kether to Malkuth
There are you
You drive like a demon from station to station.

"Here am I, tall in this room overlooking the ocean". Das könnte auch der auf eine Insel vertriebene Duke und Magier Prospero sagen, in Shakespeares "The Tempest". "Such ist the stuff from where dreams are woven" variiert "We are such stuff / As dreams are made on", The Tempest, Act 4, Scene 1. Bowie lebt 1975 in L.A. to the syllable das Szenario aus "Quicksand": bedrohlicher Orientierungsverlust im faszinierenden Labyrinth der Narrative vom Transzendieren des Menschlichen/Allzumenschlichen.

Die Erschöpfung in "Quicksand" - erst death's release gewährt Wissen, Weisheit, Erkenntnis und Einsicht ("Bardo" ist im tibetanischen Buddhismus der Zwischenraum zwischen zwei Existenzen, zwischen Tod und Wiedergeburt also) - wird aufgefangen durch die traurig-strahlende Schönheit von Arrangement und Gesang. Er, der sang: "Ain't there one damn song that can make me break down and cry?" hat so viele Songs geschrieben, die einen zum Weinen bringen können.

Auf "Station To Station" wirkt Bowie tatsächlich wie ein von dämonischer Macht Besessener: bei den Aufnahmen ist er am Rande der Zurechnungsfähigkeit und des mentalen Zusammenbruchs, und zugleich majestätischer Kommandeur von Ozeanen, Elementen, Strömen, Richtungen, Schauspielen, Welten. Schwere, dunkle Textur nach dem Intro, der Tempowechsel - und es ist schon der zweite Tempowechsel des Songs - bei "It's not the side effects of the cocaine" einer der großartigsten Momente der gesamten Kunstgeschichte. Majestätischer Kommandeur auch einer Band, die dann den dramatischsten, donnerndsten, pulsierendsten, euphorischsten funk abliefert, der je einen Zug bewegt hat. Oder eine spirituelle Reise. Was hier Fahrt aufnimmt, läßt sich nicht mehr aufhalten. "Do what thou wilt shall be the whole of the Law", Aleister Crowley.






"Throwing darts in lovers' eyes": wie Prospero in his circle einen Zauber zu wirken weiß, der Liebende macht. Selbstredend ist auch Tarot zu dieser Zeit für Bowie "a bit of an obsession of mine ... along with most things alchemical (and chemical I should think)". Crowley erwähnt im Buch Thoth für seine Tarotkarte VI, The Lovers, den Pfeil als besonderes Symbol der Richtung, direction, das die Dynamik des Wahren Willens offenbart; darum hat Cupidos Köcher die Inschrift Thelema ("Wille"). Die Komplementärkarte zu The Lovers ist nach Crowley XIV, Art. Die Kunst. 

Immer wieder wird Bowie "a real simple, spiritual search" als das eine Kontinuum seiner Kunst bezeichnen, als den großen Zusammenhang in seinem Werk. Dabei ständig die Grenzen zu verschieben, die wir um unsere Existenz gezogen haben, und in Bereiche vorzudringen, die dazu neigen, sich zu entziehen, gehört zu Bowies Unternehmen. Auch Bowies Songs sind gateways in andere Welten.

"Searching for music is like searching for God", erklärt Bowie in einem "60 Minutes"-Interview von 2003. "There's an effort to reclaim the unmentionable, the unsayable, the unseeable, the unspeakable."






Einmal sagt Bowie über sich: "I built models of the things that I didn't fully understand." Genau dafür aber weiß er alle vorhandenen Mittel wie ein Magier zu nutzen. Harry Maslin, Co-Producer bei "Station To Station":

"David knows exactly what he wants, it's just a matter of sitting there and doing it till it's done ... David knows a great deal about technical things. He doesn't know everything, he's not an engineer, but he knows more about arranging a song, he knows more about how to relate to people and get what he wants out of them ... If you listen to the rhythms specifically on this album, there are very strange things going on rhythmically between all the instruments ... David's a genius when it comes to working out rhythmic feels. He was the mainstay behind it all." 

Living in a silent film von "Quicksand" wird zu Flashing no colour, auch das Albumcover für "Station To Station" läßt Bowie in letzter Sekunde noch zu Schwarzweiß ändern.

The return of the Thin White Duke, making sure white stains.

"White Stains": dies, das, und Titel einer Gedichtsammlung von Aleister Crowley. Kether und Malkuth: Sephiroth im System der Kabbala. Kether gilt als Ziel der spirituellen Suche: das Verborgenste, das sich dem Begreifen entzieht.

It's not the side effects of the cocaine
I'm thinking that it must be love
It's too late to be grateful
It's too late to be late again
It's too late to be hateful
The European canon is here

"The European canon" - gewiß auch Bowies Faszination für deutsche Bands wie Neu! und Kraftwerk, für Filme des deutschen Expressionismus. Ein Europäer im Exil, der seine Rückkehr nach Europa beschwört. Und dabei ein furchterregend makelloses Album von bösartigem Glamour produziert. Jahre später erklärt Bowie, daß es ihm nicht gelinge, sich an die Aufnahmen in irgendeiner Form zu erinnern.

"To understand the way David works is to know that you can't understand the way David works." - Harry Maslin

"It's the tension between the artifice and the emotion, the sheer enigmatic complexity of what's being expressed, and the uncanny feeling that the band are creating something that's not entirely down to their own consciousness that has kept me listening to Station to Station for more than 20 years." - Alex Needham

Should I believe that I've been stricken
Does my face show some kind of glow? 

Bowie kultiviert 1975 auch intensives Interesse an der Kirlian-Fotografie, der Visualisierung von Korona-Entladung (vulgo: Aura). Thelma Moss von der UCLA konstruiert eigens eine Kamera für ihn. "Does my face show some kind of glow?" heißt natürlich auch: ist es denkbar, daß dies Antlitz einmal noch vor Liebe glüht? Der Outsider, der Verbindung herzustellen versucht, emotional connection.

"Wild Is The Wind", das blutende Herz eines Androiden. "Word On A Wing", ein Song wie ein Schutzamulett. "Stay", der synästhetischste Song, den ich kenne: an gewissen Stellen sehe ich ihn Funken sprühen.

Gott. Liebe. Der Heilige Gral.

"Every man and every woman is a star", Aleister Crowley. Zarathustra: eine andere Namensform von Zaraθuštra ist (mittelpersisch) Zardušt. Ziggy Stardust, Starman, waiting in the sky, he'd like to come and meet us but he thinks he'd blow our minds.















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