Donnerstag, 26. Mai 2011

Claudio Caniggia und der rechtsfreie Raum







SPIEGEL ONLINE Forum, 2009






harm ritter:
Ich hätte ja eine schöne Idee: Wir erklären alle mal, was abseits ist!







Nein, Cesar Luis Menotti erklärt mal, was rechter und linker Fußball ist.
"Menotti haßt die Rechten und den Fußball, den sie spielen. 'Beim rechten Fußball wird viel von Opfern und Arbeit geredet. Er wirft den Blick nur auf das Resultat, er degradiert die Spieler zu Söldnern des Punktgewinns', sagt er. 'Der linke Fußball feiert die Intelligenz, er schaut auf die Mittel, mit denen das Ziel erreicht wird; er fördert die Fantasie, er möchte ein Fest feiern.'"







ray05:
Jaja, etwas ZU schnell, aber: DAS IS'N ALTER HUT! Lechts und rinks gibt's weder beim Fußball noch in der Kunst - es zählt nur ...







... das Vulgobrötchen, schon klar. Man hat auch früh einen gewissen Skeptizismus gelernt. Wenn ich als linker Läufer auf so einen Gegenspielerknirps zulief, rief unser Trainer immer gern rein: "Weiter! Der kann nix!" Und da kam man dann, den Ball am Fuß klebend, ins Grübeln. Was sind das eigentlich für Zuschreibungen, dachte ich. "Zweifel kommen Ihnen wohl nie, was? Mal Descartes gelesen?" So ähnlich endete meine Fußballerkarriere.







ray05:
Linker Läufer? Ich dachte, Du bist erst hundert ... :)
War auch im linken Mittelfeld und allen Verteiderpositionen - da kam allerdings ständig der Spruch von aussen: PACK IHN ENDLICH! DER ATMET NOCH! Da dachte ich mir: Klar, mach ich ...










Caniggia. Mein Top-Hero. Ich glaube, ich kenne alle Argentinierinnen der Stadt, weil ich von denen immer angesprochen werde, wenn ich mein AFA-Shirt trage. Mein Weg zu Jorge Luis Borges führte über Mario Kempes und Claudio Caniggia.










ray05: 
Nun gut, hier ein Tribute to whom it may concern, er hat ein hellblau-weisses Shirt an. Auf dass die Dinge immer in Fluss bleiben ... :)












Würde ich nicht einen Ray von so erlesenem Geschmack kennen, ich lebte dumm wie Brot.
Halten wir die Albiceleste-Geschichte im Fluß! : Schwalbe ist legitim, weil man ja überlegen war? Das ist ein ähnliches Rechtsempfinden wie das der Dame in dem "Chicago"-Clip, die erklärt: "I fired two warning shots into his head." :)
Strafe muß sein, trotz allem: ich verhänge einstweilige Entführung ins Argentinien der 1930er.










ray05:
Dort liesse es sich im Zweifel auch lebenslänglich aushalten ... erbitte also Haftverlängerung ...
Warnschüsse in den Kopf; das ist es doch: Tango bedeutet nicht bloß bedürftiger rechtsfreier Raum, sondern rechtloser Naturzustand. Wieviele Knochenbrecher haben die Hellblauen nicht schon aufgeboten, um Europäern und Brasilianern die Wahrheit ins Gesicht zu grätschen ... :)








 
Hast ja recht, Brüderchen: auch Barca steigt nur gelegentlich aus den Himmeln der Potentialität und vergeigt dann im nächsten Spiel gegen Kitten Natividad. – Aber, verwechselst Du, was die Wahrheitsgrätsche angeht, nicht die Albiceleste mit den Urus? Wobei die sich ihren Ruf als Knochenbrecher auch zu Zeiten erarbeiteten, als man noch nicht wußte, ob mit "Das Runde muß ins Eckige" Uwe Seelers Kopf gemeint war. Heute würden die Killer von damals doch "Mädchen" geschimpft.
Und da sind wir wieder beim Thema: der faszinierendste rechtsfreie Raum, schon für die Bebilderung dieser Erkenntnis muß man dem Film Noir dankbar sein, ist die Schönheit. Und darum jetzt nicht Carlos Gardel, der in Argentinien immer noch gleich hinter Maradona und Menotti kommt, sondern... uh...
 










Brieli: 
Außerdem würde vielleicht der "Name" Argentinien fehlen. Der argentinische Fußball fehlt aber keinem. 







Und wie ich die vermissen würde. Immer für ein Spektakel gut. 










ray05: 
Die TV-Berichte aus dem argentinischen Mannschaftsquartier würde ich auch vermissen. Herrlich: Rudelweise Boca-Bodyguards. Unfassbar blonde Spielerbräute in Albicelesteshirts, die sich in Fußballerbeine einhaken ... :)







Ich glaube, Du multiplizierst da im Geiste die Szene mit Claudio Caniggia und seiner Freundin im Stadiontunnel. :) 
















Freitag, 20. Mai 2011

Vorweihnacht mit Cured Catherine (1): Psychoanalyse des Milchreis-Es













 
 
 
 
Willkommen bei MySpace, Herr Erdmann.



 
 
 
 
 
 
"Später verließ ich das Kasino mit einhundertsiebzig Gulden in meiner Tasche." (Fjodor Dostojewskij). Wo bitte läuft denn die Muppets-Show?



 
 
 
 
 
 
Well, well, well, mir war, als würde in der entfernteren Nachbarschaft schon mit Pfeffernüssen geworfen... Nun ja, die Herzen Sterne Brezel-Fraktion bekennt: im September sind sie am besten - im Dezember sind sie ausverkauft.
Ich habe den deutschen Fernsehstationen übrigens verboten, die Muppets Show zu wiederholen. Wo kämen wir denn da hin, wenn bestens inszenierte, noch dazu amerikanische Puppenspielerei dem hiesigen Kulturverfall entgegenwirkte. Ich bitte Sie!










Herzen Sterne Tannebäumchen aus Metall hab ich auch, aber in der Küche kann ich einfach nicht die Form wahren, kürzlich habe ich in einem Kochtopf ein Plastiksieb geschmolzen... falsche Herdplatte. Sie wissen ja, Madame, auf welch Weise Schmalhans küchenmeistert – "Was gibt's heut?" – "Angebrannten Kochlöffel." Mit einem Jochlöffel läßt sich auch gut scheffeln und dann das Jochzeug so über die eigene Birne Helene gießen, mh mjam. Die Bestigkeit von Pfeffernüssen im September kam mir auch schon zu Ohren. Dumm, daß ich erst im Oktober eingestiegen bin. Wie ich höre, waren die Himbeeren dieses Jahr wieder ganz besonders frech.
Über Muppets-Shows kein Wort weiter, sonst empöre ich mich. Hoffe, das Wohlbefinden befindet sich irgendwo,
The Aljoscha of Idiots










Also, wenn wir schon aus dem Küchenkästchen plaudern, berichte ich Ihnen gern etwas zur Psychoanalyse des Milchreis (ääh... Milchreises, äähh, hä?). Also Milchreis eben, neben zu bulimischen Attacken neigenden Tomaten ein weiterer neurotischer Klient meiner Küchenpraxis. Beziehungsabbrüche führen hier zu schweren Traumata mit ausgeprägter autoaggressiver Neigung. Füllt man als Therapeut aber die Elternrolle in ausreichendem Maße aus und redet dem Klienten während der Latenzphase gut zu, erreicht man unter Verwendung eines intakten Kochlöffels zumeist eine Abspaltung der regressiven Neurose und stabilisiert die Beziehung. Aber das muss man auch erst mal wissen. Übrigens plädiere ich für das Verbot von nächtlichem "Jakob"-Rufen am Klosterstern. Man kann nicht alles durchgehen lassen. Bitte unterschreiben Sie die Petition, Monsieur! 










Erkenntnisse von bemerkenswerter Tragweite, Madame. Bei der Milchreisdiagnostik scheint mir die Konversionshysterie der Milch das dringlichste Problem, die lange Zeit Symptome des Verhaltens aufweist, das Charcot "la belle indifférence des hystériques" nannte, bis unterdrückte Affekte sich in völliger Ichveränderung äußern, während welcher ich indes zumeist schon aus Langeweile in den Nebenraum gewandert bin. Versuchsreihen ergaben zwar, daß sich Erinnerungsspuren mit einem Glitzischwamm tilgen lassen, aber nur jenseits des Lustprinzips. Bitte schlagen Sie doch mal nach, wie Landauer zur Libidobeziehung mit dem Gebrannte-Mandeln-Sahne-Joghurt von Zott steht. Lustschreie hinter Klostermauern sind Diderot zufolge gar nicht mal so unüblich, Madame, und bevor ich die Petition unterzeichne, muß ich herausfinden, ob ich Royalist oder Jakobiner bin.










Sag ich ja, sag ich ja. Ich ging sogar soweit, die erwähnte Langeweile mit einer erfrischenden Dusche totzuschlagen. Selbiges widerfuhr hernach dem Kochtopf.
Ich schlage gern für Sie nach, auch bei Landauer, jedoch erscheint mir zur Deutung einer Libidobeziehung zu an sich frigidem Joghurt, der zu Sublimierungszwecken mit Zuckerwarenbeimischung daherkommt, die erweiterte Gegenübertragung nach Ferenczi nicht unerheblich. Sollte es sich in diesem Fall um Sie selbst handeln, verweise ich auf Ihre offensichtlich ohnehin leidenschaftlichen Affekte bezüglich der alljährlichen Objektbeziehungsangebote zu Jesus Wiegenfest und weiterhin auf Jacques Lacan, der Folgendes postulierte: "Dem Begehren gegenüber steht das Genießen. Während das Begehren sein Objekt metonymisch wechselt und von der Entsagung des Begehrten lebt, gleicht das Genießen, die unmittelbare, 'idiotische' sexuelle Befriedigung, eher einem zähen Schleim [oder eben Joghurt (Anm. der Autorin)]. Das Genießen ist zugleich eine bestimmte Weise des Subjekts, seine Triebökonomie und damit sein Dasein zu organisieren." Sehen Sie? Alles in Butter... oder im Joghurt.

Hinter Klostermauern, Monsieur? Au contraire, sie standen VOR den Mauern! Ich muss Ihnen näher erläutern, welch wahrhaft empörende Szene sich unlängst zutrug: junge Damen, es könnten Studentinnen der Kunstgeschichte... aber wir wollen sachlich bleiben, junge Damen also versammelten sich zu später Stunde nah des heiligen St Benedikt und verursachten mit ihren plötzlichen "Jakob"-Rufen - und zwar just in dem Moment, als ich die Jungfern mit meinem treuen Fahrrad passierte – ein solches Getöse, dass ich zum einen entsetzlich erschrak und zum anderen fast einen Hörsturz davontrug. Was für ein Benehmen!? Meine Unmutsphantasien auf dem verbleibenden Nachhauseweg gingen hin zu feuerroten Verbotsschildern, die freundliche Stadtverwalter am Ort des Geschehens aufstellten und auf denen ein Querbalken durch eben den berufenen Jakob mit einer "Rufen in Hörweite untersagt"-Unterschrift prangte, womit ein solches Gebaren also zukünftig verboten wäre. Sollen sie doch rufen, aber nicht in meinem Beisein!










Ah, oho. Ich hingegen rettete erst kürzlich zwei Töpfe auf einmal vor ewiger Verdammnis, den einen mit einer langwierigen Prozedur des Restplastikschmelzens; der andere konterte boshaft meinen Stolz darauf, endlich beim Kartoffelschälen mehr zu produzieren als alberne Stempel, mit einer geradezu baudrillardsch zu nennenden Beschleunigung des Kochvorgangs, eventuell war mir auch nur meine Bergson'sche durée stehengeblieben, wie dem auch sei, es galt einen verkohlten Bodenbelag zu eliminieren.

In der Tat handelte es sich bei mir meistens um mich selbst, bis mir Lacan das idiotische Genießen weggeschlürft hat. Denn schließlich, wer sind ich? Kann das moi mit dem je einen Joghurt teilen? Hatte der Spiegelstadiumsspiegel einen Sprung oder ich?

Seltsame Dinge gehen vor. Schon hier und jetzt kann ich aber sagen, daß es sich meiner Einschätzung nach nicht um Kunstgeschichtsstudentinnen handelte. Die mir bekannten sind jedenfalls nie durch öffentlich-kollektives Jakobsgeschrei aufgefallen. Vielleicht die Nonnen von Loudon? Sie riefen einfach nur "Jakob"? Nicht "Bruder Jakob, schlürfst du noch?" oder irgendwas Identifizierbares? Ein einfaches nächtliches "Jakob"? Fragend oder fordernd? Man könnte anfangen, über diesen Jakob ins Grübeln zu kommen. Was führt der eigentlich für ein Lotterleben? Sagenhaft.










Und doch wage ich zu behaupten, dass wir im Grunde nicht ahnen, wozu perlenohrringtragende, hochwohlgeborene Damen im Schutz der Dunkelheit fähig sind.
 
Da Sie die Pinguinsprache beherrschen, sprechen Sie unter Verwendung dieser doch einmal mit der durée und bitten Sie sie in meinem Namen um etwas mehr Contenance. Und überhaupt, die Launenhaftigkeit, mit der die Zeit zu verrinnen scheint, geht mir auf den Wecker.
 
Unfassbar, dass in Madonnas Nachbarschaft Fahrräder entwendet werden. Das erhöhte Aufkommen von überdimensionalen Four Wheel Drive Jeeps in den schmalen Gassen meiner Kommune, vornehmlich übrigens von Müttern mit Kleinkindern gesteuert, lässt mich phantasieren, dass eines Tages Power Ranger kommen, um die Monsterfahrzeuge zu verschieben und das Lumpenproletariat zu rächen.










Und ob wir das ahnen. Im Traum versteht man 0 = 2. Warum eigentlich? Wenn Ihnen die Launenhaftigkeit der Zeit nun ausgerechnet auf den Wecker geht, ich brauche in der Früh übrigens dero zwei, wobei ich nie verstand, was Menschen im Frühtau zu Berge ziehn ließ, man ist noch nicht mal oben, schon ist man klamm, wobei ich aus Prinzip eher auf lumpenproletarische Weise klamm bin, und wenn dieses sich schon nicht mehr selbst rächt, und zwar mit Hyperpower, finden Sie übrigens "Year Zero" auch so großartig? Jetzt sagen Sie bitte nicht, zwei Wecker seien ein Zeichen von Dekadenz, noch dürfen Sie mich nicht Balzac nennen, dessen Fluchtwege aber überaus gewinnbringend zu studieren sind, Sie wissen schon.

















Freitag, 13. Mai 2011

Wie ich Jim Morrison entdeckte






Der See, über den bei Nacht der große Nordbär kommt, durchschwommen an einem glitzernden Morgen. Ein Füchslein pirscht um unser Zelt. Wolfsmond, dann nur noch Meilen und Meilen geradeaus, Sandstraßen auf dem Weg zur Mitternachtssonne.

Pjotr saß hinten, ich auf dem Beifahrersitz, Yuri am Steuer. Etwas Unheimliches lag plötzlich über diesem Tag. Keine Menschenseele mehr da draußen, seit Stunden kein Auto mehr hinter uns, niemand kam uns entgegen, nur noch dieser orangefarbene Käfer irgendwo in einer grünen Waldhölle in Mittelschweden. Der Himmel bewölkte sich, später Nachmittag. Irgend etwas schien an den Nerven zu zerren. Yuri hatte uns schon mit einem kleinen Schlenker aus der Trance gerissen, und wir blickten mit gespannter Konzentration umher. Irgendwas Beunruhigendes war in Yuris Augen gekrochen. Seltsam starrer Blick. Eine Doors-Cassette lief. Ich hörte die Doors zum ersten Mal. Yuri schien nicht zu spüren, daß er zu schnell fuhr, oder er spürte es, konnte aber nicht mehr dagegen ankämpfen, weil der endlose Weg tatsächlich in die Ewigkeit führte und Geschwindigkeit, Zeit und Raum eine Illusion waren. Jedenfalls in seinem Kopf. Wahrscheinlich wurde es einfach zu unwirklich, ein Gaspedal runterzutreten. Die Angespanntheit, das Erwarten von irgendwas, das nicht kam, schien ihn zu lähmen, und sicher fühlte er, daß sich unter der scheinbaren Beiläufigkeit von "He, fahr mal nicht ganz so schnell" ein ungutes Gefühl verbarg, das alles nur noch schlimmer machte - es war, als gerieten wir in einen unheilvollen Sog. Dieser Song hatte begonnen, der mir ganz besonders großartig schien, und ich sagte: "Das ist ja besonders großartig." Und Yuri sagte: "Das ist ja auch The End."

Und dann kam diese Linkskurve, der Sekundenbruchteil, in dem man es weiß, es im Magen spürt, daß wir zu schnell sind, daß wir es nicht schaffen. Yuri brachte das Auto schliddernd aus der Kurve, und vielleicht wäre alles gutgegangen, wenn der Weg geradeaus weiterverlaufen wäre, aber der Wagen beginnt sich querzustellen, rutscht auf dem Sand, und Yuri muß das Steuer rumreißen, um uns in die Rechtskurve zu kriegen, die plötzlich auch noch da ist, was er auch schafft, aber die Geschwindigkeit ist zu hoch, der Wagen ist außer Kontrolle jetzt und wir krachen in die Büsche, ich weiß, daß ich sehr ruhig dachte, jetzt könnte es eigentlich mal aufhören, es sah so aus, als würden wir uns überschlagen oder um einen Baum wickeln, aber Yuri hielt Zwiesprache mit seinem persönlichen Gott, zwei Sekunden lang, zwei Sekunden, in denen er nicht viel mehr tun konnte als das, dann hatte er sich mit seinem Gott auf irgendwas geeinigt und den Käfer wieder soweit unter Kontrolle, daß er ihn messerscharf an einer Baumreihe vorbei dirigieren konnte. Wir pflügten Büsche um, kleine Bäume, schrammten über Steine und Geröll, bis der Wagen an Geschwindigkeit verlor, das Rumpeln wurde sanfter, Yuri brachte uns auf den Weg zurück, all das dauerte nur ein paar Sekunden, aber der innere Film machte eine Ewigkeit daraus, der Käfer rollt aus, eine Ölspur hinterlassend, seine Blutspur, Stillstand, Käfer tot. Nur die Doors-Cassette lief noch immer. Noch immer lief, and it's the fucking truth, "The End".











Ein Jahr später saßen Pjotr und ich in einem Kino in Marseille.





















Samstag, 7. Mai 2011

I'm Eighteen







Ente hieß eigentlich Stefan, aber alle nannten ihn Ente. Nur seine Schwester nicht. Als ich einmal bei Ente anrief, war seine Schwester am Telefon, ich sagte, "Kann ich mal Ente sprechen?", sie sagte, "Wir sind doch keine Geflügelfarm!" und legte auf. Ente und ich wollten eine Band gründen, und er hatte die skurrilsten Pläne, wie wir uns das Geld für Instrumente beschaffen konnten. Von Iris lernte ich Ziggy Stardust, von Ente lernte ich Cockney Rebel. Es fehlte nur noch am läppischen Geld, unsere Bühnenshow hatte er bereits bis ins Detail durchkalkuliert. Ein vollkommener Spinner. Aber liebenswert. Mit Ente ging immer irgendwas schief. Einmal kauften wir ein halbes Reagenzglas Haschischöl, um in der Schule beim blühenden Handel ein Wörtchen mitzureden, aber niemand war an Haschischöl interessiert. Das Zeug landete im Gulli. Mit Ente funktionierte nichts. Wenn man mit Ente nach Scheeßel fuhr, brannte die Bühne ab.

Long Tall Ernie & The Shakers, dann Van der Graaf Generator. Peter Hammill, ganz in Schwarz, mit weißem Schal. Ich mochte seine Bewegungen, aber die Musik sagte mir noch nicht viel. Fünf Jahre später würde "Nadir's Big Chance" bei mir einschlagen wie ein Meteorit. Jetzt war Hammill mit seiner Band tatsächlich ins katastrophale Scheeßel gekommen, aufrichtig wie immer, eine von fünf (5) Bands, die den kümmerlichen Rest der angekündigten 22 darstellten.

Davon ahnte freilich noch niemand etwas, obgleich sich das Festival merkwürdig schleppend dahinzog, mit endlos langen Umbaupausen. Ente und ich ernährten uns von undefinierbaren süßen Klößen, in denen wir natürlich Dope vermuteten. Colosseum II in der Abenddämmerung, dann noch Camel und gegen Mitternacht Golden Earring, das war's.

Gerüchte machten die Runde: Klaus Schulze schlage Krach, weil es für seinen Auftritt zu spät geworden sei; Klaus Schulze schlage Krach, weil er nicht auftreten will, ohne vorher seine Gage erhalten zu haben; alle schlagen Krach, weil überhaupt keine Gagen gezahlt werden; der Veranstalter ist mit dem Geld über alle Berge. Schließlich sickerte durch, daß für heute Schluß sei, und wir legten uns aufs Ohr.

Infernalischer Krach weckte uns. Flaschen zerschlugen an der Stahlkonstruktion der Bühne, an den Boxentürmen, erst ein paar, dann tausende. Einer der bizarrsten Klänge, die ich je hörte. Gespenstisch. Wir konnten es nicht glauben. Eine entfesselte Menschenmenge, auf merkwürdige Art alleingelassen vor diesem schweigenden Stahlmonster. Das Mischpult wurde gestürmt, die Boxentürme kippten. "Hier findet kein Festival mehr statt, Mann", wir rafften unsere Schlafsäcke zusammen, kämpften uns durch bis zu dem Wald, in dem wir unsere Fahrräder versteckt hatten, fluchten und suchten wie die Deppen in der Dunkelheit, war ja nicht vorgesehen, daß wir die Räder mitten in der Nacht brauchen würden, und als wir endlich wieder aus dem verdammten Wald herauskamen, brannte die Bühne lichterloh.

Als ich den Lichtschein sah, hatte ich den seltsamen Gedanken, daß es langsam Zeit wäre, sich aufs Abi zu konzentrieren. Das stellte sich dann auch als Himmelfahrtskommando heraus, was aber ausnahmsweise nichts mit Ente zu tun hatte, jedoch viel mit









Kerstin.














Donnerstag, 5. Mai 2011

David Bowie 1975 - 1977










 
 
Transkript (Exzerpte) aus "Der Favorit", Sendereihe von Heinz Rudolf Kunze über David Bowie, die der NDR erstmals 1985 ausstrahlte. 





Im Sommer 1975 beginnt Bowie mit den Dreharbeiten zu seinem ersten abendfüllenden Spielfilm, "The Man Who Fell To Earth", unter der Regie von Nicolas Roeg ...  Als "Mann, der vom Himmel fiel" braucht er jedenfalls nur sich selbst zu spielen. ... Die nächsten beiden Cover zeigen Portraits von Thomas Jerome Newton. Zeitweise scheint Bowie nach Abschluß der Dreharbeiten den Film mit anderen Mitteln fortsetzen zu wollen. 

... die hektischen Zuckungen eines Drogenabhängigen. Eines Mannes, der unbedingt und augenblicklich damit aufhören muß, sich selbst zu zerstören. Bowie weiß es, und es macht seine Größe aus, daß er diese Einsicht in Musik umsetzen kann. Im Herbst 1975 ist innerhalb von 14 Tagen seine neue LP "Station To Station" fertiggestellt worden, flüchtige Notizen eines Gehetzten, der alle Worte auf dem Cover ohne Zwischenraum aneinanderreiht, um ihnen noch mehr Tempo zu geben. Wie er in dieser tiefen persönlichen Krise – auch seine Ehe erreicht allmählich ihr Endstadium – zu einschneidend neuen Schreibmethoden und zu ersten Ansätzen der neuen Musik vorstoßen konnte, die die Arbeit seiner nächsten Jahre kennzeichnen, wird wohl ein Rätsel bleiben. 

Zuggeräusche leiten die neue Platte ein. Aber, um alles in der Welt, das ist nicht die Union Pacific. Das ist der Orient-Express beim Verlassen des Wiener Ostbahnhofs. Auch Earl Slicks Gitarre kehrt heim in die Alte Welt, sie macht deutliche Anleihen bei Robert Fripp. Und dieses Intro – es vergehen nahezu zwei Minuten, bis der Meister auf der Klangfläche erscheint: als Thin White Duke, hohlwangiger, unnahbarer Kokainfürst. Bela Lugosis Sohn. "One magical movement from Kether to Malkuth" – auch die Kabbala wird diesem Verfluchten keine Zuflucht sein. Ein unseliger Engländer sucht nach seinen Wurzeln, nach der Verschmelzung von Amerika und Europa. "Drive like a demon from station to station" – kein Song ist das, mehrere unverbundene Teile ergeben ein Ganzes, das seine Brüche zugibt. Too late ist das Leitwort, aber immerhin verbinden sich europäische Harmonien und die Raffinesse amerikanischer Rhythmik zu einer donnernden Westworld-Disco, in der alle Worte ertrinken...







"Golden Years" entführt uns in den Plüsch der 30er-Jahre. Der Song besteht aus lauter Pleasure-Versicherungen, die der amüsierte Sänger selbst nicht glaubt. Never look back, walk tall, act fine – run for the shadows in these golden years.







Bei Peter Handke heißt es irgendwo: "Plötzlich bemerkte ich, daß ich ein Spiel spiele, das es gar nicht gibt." Solche Einsicht hat zwei mögliche Folgen: entweder die Zeichentrickfigur läuft in der Luft noch weiter, obwohl sie schon über dem Abgrund schwebt, und fängt an zu lachen, wie in "TVC 15", einem Stück, das laut Bowie von einem Fernseher handelt, der seine Freundin ißt. Oder der Held bricht zusammen, so unnachahmlich schön, daß jeder ihn trösten möchte, wie in dem beinahe schon religiösen "Word On A Wing". "In this age of grand illusion you walked into my life out of my dreams". Bowie klingt betrunken, traurig, einsam. Ist dies der Mann nackt? Ja und nein. Selbst nackt ist er nicht nackter als in irgendeiner Verkleidung. Die alte Enthüllungsgier, die Suche des Publikums nach einem Persönlichkeitskern kommt bei diesem Künstler nicht auf ihre Kosten. Bowies Allerheiligstes ist nichts weiter als ein Bildschirm, der DICH zeigt, wie du ungläubig vor ihm stehst.







Auch "Wild Is The Wind", ehemals das Titelstück eines Films mit Anthony Quinn und Anna Magnani, gesungen von Johnny Mathis, wird bei Bowie zum bläulich brennenden Leidenschaftslied, das mit wenigen Instrumenten und seiner Stimme eine ungeheure Räumlichkeit erzeugt. Keine Frage, dieser Mann ist ein großer Rocksänger. Seine Begabung für stimmliches Drama ist geradezu erschreckend. "With your kiss my life begins" – das klingt wie ein müder Vampir kurz vor Sonnenuntergang.

Auf "Station To Station" befinden sich nur 6 Titel. Noch nie waren Bowie-Stücke durchgängig so großflächig angelegt. ... Die Platte (...) bedient sich einer der Haupteigenschaften schwarzer Musik: sie läßt sich Zeit. Sie erzeugt Schwingung durch Wiederholung. Bestes Beispiel: "Stay". Eine mörderische Gitarre liefert das Intro zu einem Krimi, in dem der Täter nie gefaßt wird. Über einem atmenden Rhythmustrack, wie ihn nur Schwarze spielen können, spielt Earl Slick ein sinnliches Solo, das sich auf Sounds und nicht auf Schnelligkeit verläßt. Und Bowie singt einen Mutantenfunk, stilisiert gefühllos Gefühl. Man hat Klaus Kinskis Liebesverzweiflung vor dem Bett der Ausgesaugten vor Augen.








... Im Chateau d'Herouville produziert er Iggy Pops "The Idiot"-Album. Die Presse nimmt das Werk kaum zur Kenntnis, sie ist Ende 1976 vollauf mit der Punk-Explosion beschäftigt. Iggy Pop ... ist ein enger Vertrauter und Günstling Bowies, der alles versucht, um ihm zum Durchbruch zu verhelfen, mit mäßigem Erfolg. Bowie selbst wird von Rechtsstreitigkeiten aufgefressen. In Paris trennt er sich unter deprimierenden Umständen von seinem neuen Manager ... Er kann es nicht verwinden, daß es ihm nicht gestattet wurde, den Soundtrack zu seinem ersten Spielfilm selbst zu bestreiten. Ein einziges Stück davon taucht definitiv auf seiner nächsten Platte auf: "Subterraneans".

Diese Platte wird das Wichtigste und Wegweisendste sein, was David Bowie der Rockmusik zu geben hat. Sie heißt "Low", und so fühlt er sich auch. Rechtzeitig zum Weihnachtsverkauf 1976 liefert er die fertige Produktion bei der RCA ab, aber die Firma ist nach dem ersten Anhören dermaßen erschrocken, daß sie die Veröffentlichung bis Januar 1977 hinausschiebt. Vor kurzem hatte Lou Reed eine experimentelle Platte namens "Metal Machine Music" gemacht, die ihn fast vollständig um seinen kommerziellen Status gebracht hatte. Nun fürchtete die RCA, mit ihrem Goldjungen Bowie das Gleiche zu erleben. Bis zu "Low" waren Bowies Verwandlungen niemals wirklich revolutionär, allenfalls verblüffend. Alle seine Veränderungen fanden innerhalb vorgegebener Rockformen statt, Formen, die er nicht selber erfunden hatte. Er wechselte die Spielregeln, nicht das Spiel. Aber, was war jetzt das?







Polternde Muzak. Brutal verfremdeter Schlagzeugsound. Ein grotesk verzerrtes Mischverhältnis zwischen Electronics und Instrumenten, und vor allem: kein Gesang.

Aber auch bei den fünf Gesangsstücken der Platte bewegt sich Bowie immer am Rande des Verstummens. "You're such a wonderful person / But you've got problems." Die Musik und die Texte wirken wie roboterhafte Intros, ausholende Gesten, denen aber nichts folgt. Klaustrophobische Unglücksfetzen ... "Blue blue Electric blue / That's the colour of my room where I will live / Pale blinds drawn all day / Nothing to read, nothing to say". Der NDR wählte "Speed Of Life" als Erkennungsmelodie für heitere 2minütige Englischkurse im Vormittagsprogramm. Was wäre die Kunst ohne Mißverständnisse.
 


 



Der Wunsch nach Zuneigung, immer wieder wie in "Be My Wife" zum Stampfen einer Death Disco geäußert, das läßt das Wasser in den Augen gefrieren. Wer oder was spricht hier? Von "Low" an hat Bowie nie wieder ein durchgängiges Alter Ego für eine Platte geschaffen. Als die LP erschienen ist, sagt er, niemand solle sie kaufen. ... "Low" ist eine lebensgefährliche Rückbesinnung Bowies auf das, weswegen er angetreten war. Jedenfalls nicht, um in L.A. den reichen Stutzer zu spielen. "Low" verzichtet auf Amerika, den Thin White Duke, Soul, Masken, konventionelle Lyrics – und auf Songs. Dafür präsentiert die Platte Europa, Persönlichkeitsspaltung, Kraftwerk, heruntergelassene Jalousien, vieldeutige verbale Stilleben, und vor allem – Brian Eno. Drei Jahre lang bildeten Bowie und Eno das richtungsweisende Doppelgestirn fortschrittlicher europäischer Rockmusik. "Low" handelt nicht mehr vom gesellschaftlichen Zusammenbruch, sondern vom Zusammenbruch der Binnenstruktur eines Menschen. Das ganze Album könnte von einem mit Beruhigungsmitteln vollgepumpten Thomas Jerome Newton in seinem Luxusgefängnis gesungen und gespielt worden sein. Und das ist auch ungefähr Bowies Zustand. 

"I've been breaking glass in your room again." Es gehört zu Bowies Ruf, das Publikum mit jedem neuen Produkt zu irritieren, aber diesmal löst er regelrechte Bestürzung aus. Der NME druckt zum ersten Mal in seiner Geschichte zwei Kritiken über das Album nebeneinander ab. Charles Shaar Murray flucht das Werk als Depressionsetüde in die tiefste Hölle hinab, Ian McDonald urteilt: die einzige wirklich zeitgemäße Rockplatte. Die Band als Herzrhythmusmaschine führt den Hörer in ungeahnte Tiefen des Rückzugs; in ein Universum, das auf ein Zimmer zusammengeschrumpft ist. "Always Crashing In The Same Car" – was für ein Titel. Zwei Futuristen, die verlernt haben, was Trauer ist, versuchen eine traurige Nummer zu spielen.






"Low" ist reine Methode, reiner Prozeß, ohne Vorplanung und ohne Blick auf die Konsequenzen. Diese Platte ist wirklich nicht "gut" in einem moralischen Sinne, nicht konstruktiv; sie ist teuflisch. Ein Hörspiel über den Todestrieb. Während Seite 1 von Bowie als Seite des Selbstmitleids bezeichnet wird, unternimmt Seite 2 etwas bahnbrechend Neues. Bowie verzichtet gänzlich auf Texte, gibt, wenn überhaupt, nur noch eine erfundene Sprache in Beinahe-Englisch von sich. Die Wirkung ist faszinierend. Während man sich anstrengt, eine vorgegebene Bedeutung zu erfassen, schafft man diese Bedeutung erst. Wichtiger noch als die konkreten Musiken dieser Seite, mit ihren auf Westberlin und den Ostblock bezogenen Stimmungen, ist das Zeichen, das hier gesetzt wird.

Schlafwandelnde Saxophone über Nebelfeldern aus effektbearbeiteten Keyboards und Gitarren, zerstückelte gregorianische Chöre mit Ghettoaufstand-Timbre bezeugen den Willen zur Gestaltung einer absoluten Oberfläche; zur Abschaffung des Begriffs Tiefe. Wie in der abstrakten Malerei die Farben nicht etwas, sondern sich selbst bedeuten. Bowie erläuterte einmal den Herstellungsvorgang von "Warszawa": 

"Ich sagte, Brian, ich möchte ein ziemlich langsames Musikstück komponieren. Es soll eine sehr gefühlsbetonte, fast religiöse Atmosphäre haben. Mehr möchte ich dazu noch nicht sagen. Wie fangen wir es an? Und er sagte: Laß uns erstmal eine Spur mit Fingerschnipsern aufnehmen. Das tat er dann etwa 430mal. Danach schrieben wir sie alle als Punkte auf ein Stück Papier, zählten sie durch, und jeder nahm sich ganz willkürlich bestimmte Sektionen vor. Dann ging Brian wieder ins Studio und spielte Akkorde und veränderte sie entsprechend den Numerierungen, und ich machte in meinen Sektionen das Gleiche. Dann löschten wir die Schnipser, hörten uns an, was wir hatten, und schrieben weitere Stimmen darüber, abgestimmt auf die Taktmengen, die wir uns zugeteilt hatten." 

"Art Decade". Ein Polaroid vom Niemandsland.






"Low" ist für Bowie ein echtes Wagnis. Das Resultat steht erst fest, wenn alles fertig ist. Dabei ergänzen sich seine und Enos Arbeitsweisen ideal. Bowie agiert im Studio impulsiv, liefert in einer kurzen, hochkonzentrierten Phase eine perfekte Leistung ab, und nimmt sich dann für den Rest des Tages frei. Eno dagegen arbeitet langsam und genau, schichtet behutsam viele musikalische Flächen übereinander. ... Zwei Gleichgesinnte haben sich gefunden. Eno scheint eine besondere Begabung für solche intensiven Dialogpartnerschaften zu haben.

In Berlin wird Bowie wieder Mensch. Er lebt allein, sorgt für sich selbst, kann sich relativ frei und unerkannt bewegen, und die Stadt sogar mit dem Fahrrad durchstreifen. Hier erholt er sich von Drogen und Schmeicheleien, von der Fälschung L.A. Und er arbeitet viel und lustvoll. Daß der Mensch hin und wieder schlafen muß, empfindet er als Skandal. Er produziert Iggy Pops neue LP "Lust For Life" und begleitet ihn auf dessen Tournee als prominenter, aber immer im Hintergrund bleibender Pianospieler. ... Nach jahrelanger Unterbrechung beginnt Bowie wieder ernsthaft zu malen, inspiriert durch den Verfall Berlins. Selbstredend hat er Mitte September eine neue Platte fertig. Sie heißt "Heroes" und bildet zusammen mit "Low" das immer noch zentrale Sternbild der zeitgenössischen Popmusik.








SPIEGEL ONLINE Forum

03.11.2009 


ray05:
 
Bin durch mit "Low". "Sound/Vision" kannte ich, ohne zu wissen, dass die Nummer zu dieser Platte gehört. Jetzt macht der Titel auch Sinn, weil er sich in's Ganze fügt. :) Und das Ganze klingt, als sei es zehn Jahre später entstanden, aber keinesfalls 1977. Waren Eno & Bowie somit ihrer Zeit voraus? Nö, die meisten anderen hinkten einfach hoffnungslos hinterher ... :) Frei heraus, Enos "Warszawa" sowie Bowies "Art Decade", "Subterraneans" und "Weeping Wall" sind eine Offenbarung und mich wundert's grad' nicht schlecht, wie ich ohne die Kenntnis dieser vier Kompositionen überhaupt existieren konnte, all die Jahre. :) 

"Weeping Wall" legt nahe, dass die beiden wohl das Werk Steve Reichs sehr gut kannten, mit Sicherheit die epochale ECM-Platte "Music For 18 Musicians" und auch "Electric Counterpoint". Wenn man das kennt, will man's unbedingt selbst mal seriell versuchen. Aber wenn mich nicht alles täuscht, kommt Eno ursprünglich aus dieser Szene. "Warszawa" ist eines dieser frühen Ambientstücke Enos, vielleicht das erstaunlichste, wenn man das Aufnahmejahr bedenkt. Für die beiden übrigen Stücke habe ich derzeit noch keinen Begriff.







Christian Erdmann:

"Warszawa" war auf jedem Tape, das ich aus Zuneigung verschenkte, auf jedem. Und in dem Stück steckt weit mehr als Kunze sieht, für mich. So lobenswert das war, daß HRK uns das alles mal nahegebracht hat, manches würde ich so nicht stehen lassen, eine Formulierung wie "Hörspiel über den Todestrieb" für "Low" z.B. Eben nicht. Katharsis eher; Entfremdung und Depression, aber auch genau der Weg hinaus. Auch eine Wendung wie "Zwei Futuristen, die verlernt haben, was Trauer ist, versuchen eine traurige Nummer zu spielen" trifft es nicht. All das betrachtet Bowie zu sehr als soul-less, während ein wichtiger Aspekt seiner Kunst, wie man auf einem Stück wie "Quicksand" von "Hunky Dory" schon gut vernehmen kann und auf "Station To Station" auch wieder, Sinnsuche ist, spiritual thirst. 

Zu Bowies Ungreifbarkeit trägt bei, daß er zu zwei Arten von Interviews neigt: ein ur-englisches an-die-Nase-Tippen, das sagt, haha, war alles nur Spaß, oder aber eine Art, über seine Kunst zu reden, die klarmacht, daß alles noch viel tiefer ging, als wir dachten. 

"Warszawa" jedenfalls ist von einer so unglaublichen traurigen Schönheit, ich hab wahrscheinlich den Mund, seit ich das Stück zum ersten Mal hörte, nie wieder ganz zugekriegt.






Bei diesem Stück hier, Bonus-Track, steht nur noch "Bowie, Eno: Instruments", ansonsten sind die Angaben darüber, wer was spielt, ja sehr detailliert, aber da wußten sie wohl selber nicht mehr, wer welchen Analogkram angeworfen hatte.






Außerdem finde ich, Bowie ist ein Meister der sozusagen erstmal subliminalen kleinen dramaturgischen Geniestreiche. Nochmal "Heroes": gerade, wenn man die Größe dieses Songs kapiert hat und weiß, es ist "the one damn song that can make me break down and cry", weiß man plötzlich gar nicht mehr, wie einem geschieht in der Euphorie, die sich steigert und steigert, noch eine Schicht, und noch eine Schicht, noch eine Fripp-Linie, und da hinten zischelt noch was mit Echo durch, aber da ist genau ein Moment, wo man einfach in die Knie geht, und es ist der Moment bei 3:55. Was ist es? Bloß ein Tamburin. Aber es ist eben nicht von Anfang an da, erst nach 4 Minuten sagt es: ab jetzt gibt es kein Halten mehr.














"For whatever reason, for whatever confluence of circumstances, Tony, Brian and I created a powerful, anguished, sometimes euphoric language of sounds. In some ways, sadly, they really captured unlike anything else in that time, a sense of yearning for a future that we all knew would never come to pass. It is some of the best work that the three of us have ever done. Nothing else sounded like those albums. Nothing else came close. If I never made another album it really wouldn't matter now, my complete being is within those three. They are my DNA."





Uncut Magazine, 1999

UNCUT: Low is generally perceived as David at his most emotionally honest, but most unhappy. Looking back, is this interpretation accurate?

Bowie: Yes, it was a dangerous period for me. I was at the end of my tether physically and emotionally and had serious doubts about my sanity. But this was in France. Overall, I get a sense of real optimism through the veils of despair from Low. I can hear myself really struggling to get well.








SPIEGEL ONLINE Forum

01.11.2009
 
Christian Erdmann:

Elizabeth Bowen: "Anywhere, at any time, with anyone, one may be seized by the suspicion of being alien - ease is therefore to be found in a place which nominally is foreign: this shifts the weight." An diese places versetzt sich Bowie, räumlich oder psychisch. 

Bowie: "I'm completely open. I'm so eclectic that complete vulnerability is involved. You've got no shields, then. I've never developed them, and I am not too sure that I want to anymore because I'm becoming far more satisfied with life... Eno is the same. Neither of us understand on a linear level what the thing's about, but we get a damn good impression of information coming off those two albums..." (Low / Heroes). Berlin war für Bowie "a refocus about what I'm trying to do."

Ich behaupte, daß jedes Werk für Bowie "a refocus about what I'm trying to do" war. Vitales Interesse für Kunst (all kinds), von japanischem Theater bis zu den Gothenburg Castrationists. Plus: "Bowie wäre immer selbst gern Iggy gewesen, ist aber zu rational." Wenn der Steinbock seine Rationalität aufbricht, geht es in Extreme (vgl. Blixa Bargeld, Scott Walker), an denen nicht mehr viele andere operieren. Space ist da nur eine spezifische Metapher für den unbetretenen Raum. Aber weil er Bowie ist mit seinem unzerstörbaren Glam, wird daraus immer eine elegant derangierte Energie, auch wenn er korrodierte Musik abliefert und Lyrics aus dem Bunker. Der Rockstar als Moving Target. Don't you wonder sometimes? Always.






Sons of the silent age
Make love only once but dream and dream
They don't walk, they just glide in and out of life
They never die, they just go to sleep one day.