Freitag, 22. April 2011

Vorwitz & Verstrickung (1): 39 bedeutungslose chemophysikalische Impulse







. Die Maid die vor 100 Jahren barfüßig
. den weiten Weg nach London wanderte
. um dort auf dem Markt Butter und Brot zu verkaufen
. die könnte ich lieben
. sagte ich
. Der Aktionsanalytiker schüttelte den Kopf
. "Beweisen Sie das."
. Genug der Reden
. Das Caféboulevardcafé ist Schauplatz stiller Hoffnungen
. Ein Mädchen zerstückelt Bierdeckel
. und füllt die leere Kaffeetasse vor ihr
. mit zerstückelten Bierdeckeln
. Nervöses Lächeln
. und ich renne über Bürgersteige
. sehe kleine Nasen überall
. sehe diese Blicke
. sehe diese Bewegungen
. sehe diese Gesten
. Alle Wesen treten hervor im Zeichen des Erregenden
. Holt den Rettungswagen
. Auf der anderen Seite der Stadt
. lebt meine Krankenschwester
. Sie ist so geduldig mit mir
. Sie weiß daß ich sie liebe
. Ich für meinen Teil weiß es nicht
. Ich reiß mich los von ihr
. Ich renne weg, weg, bis es dunkel wird
. weg, bis meine Füße bluten
. bis ich bewußtlos umfalle
. Erwachend
. sehe ich sie
. mit meiner Jagdmütze
. Sie spielt mit meiner Jagdmütze
. und lächelt mir zu
. Bleich der Mond
. Geschwächt meine Sinne
. Die Sphinx ist ein weibliches Ungeheuer
. das jeden tötet
. der ein aufgegebenes Rätsel nicht zu lösen weiß


























Vorwitz und Verstrickung








Aus: Interview mit Christian Erdmann, Literatur-Feder Magazin, Ausgabe 5, Juni 2007

LF: Ihr Roman "Aljoscha der Idiot" ist Ihre erste Roman-Veröffentlichung. Wann haben Sie mit dem Schreiben begonnen und gab es dafür einen bestimmten Auslöser?

CE: Die ersten ernsthaften Schreibversuche waren Gedichte. Es gab auch mal einen Gedichtband, den ich zusammen mit einer Freundin gemacht habe. Wir haben beim Drucker die Seiten selbst geschnitten und geleimt. Das Bändchen hieß "Vorwitz und Verstrickung". Ein paar Hundert Exemplare im Eigenverlag, das war gnadenloser, furchtloser, furchtbarer Idealismus. 




_______




Ich weiß von 83 verkauften Exemplaren. Wieviele Exemplare über P.B. in die Weltgeschichte kamen - keine Ahnung. Der Preis wurde Pi mal Auge festgelegt, in der Regel waren es 7 DM. Das Bändchen trägt die Widmung "in ehre & furcht - für ulrike k." Ulrike K. war Deutschlehrerin. 






















Donnerstag, 21. April 2011

Cut-up under Prometheus








SPIEGEL ONLINE Forum "Literatur - Was lohnt es noch, zu lesen?"

August 2006






Mixolydian:
 
Ohne Cut-ups hätte es weder das Eno/Byrne-Referenzalbum "My Life In The Bush Of Ghosts" noch die in dessen Nachfolge immer ausgefeilter werdende Sampling-Technik in der Musik gegeben. Die Cut-up-Methode war ein Experiment, das sich als extrem einflußreich erwiesen hat. Hier wurden einfach neue Wege aufgezeigt. Ohne Innovatoren wie Burroughs, Gysin oder auf dem musikalischen Feld Eno, Byrne, Fripp oder Cale wären wir heute um einige Kunstwerke ärmer.








Christian Erdmann:
 
Ich denke, daß der Zufall stets in die künstlerische Arbeit integriert ist (Genie besteht ja auch in der Fähigkeit, sich den Zufall zunutze zu machen), und daß die Cut-up-Methode sozusagen nur die extremere Form des Sichauslieferns an dieses Prinzip ist. Sie legt den Akzent zunächst auf die reine Methode, den reinen Prozeß, ohne Vorplanung und vorgegebene Bedeutung. Indem Dinge zusammenkommen, die sonst nicht zusammenkommen, entstehen neue Bedeutungen. Lautréamont sprach von der Schönheit der zufälligen Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf dem Seziertisch. Ich persönlich mag es als Leser sehr, mich zu fragen: wie kommt das denn jetzt da hin, solange all die Türen, die sich da öffnen, noch als einem Korridor zugehörig erkennbar sind. Burroughs oder Lautéamonts "Gesänge des Maldoror" können sehr labyrinthisch (minus Ariadnefaden) werden, zur sehr anstrengenden Reise durch einen Kopf. Hypertroph scheinende Willkür ist natürlich enervierend. Aber durch die offene Kollaboration mit dem Zufall sind Werke von unglaublicher Schönheit entstanden.

Für sein "Low"-Album, das er mit Eno zusammen aufnahm, wollte David Bowie ein langsames Stück mit nahezu religiöser Atmosphäre – das war alles, was er Eno vorgab. Eno schlug vor, erst einmal eine Spur mit Fingerschnipsern aufzunehmen. Das taten sie dann, ca. 430mal Fingerschnipsen. Das notierten sie. Jeder der beiden nahm sich dann willkürlich bestimmte Sektionen vor und spielte auf dem Synthesizer Sequenzen dafür ein. Dann löschten sie die Schnipser und schrieben, abgestimmt auf die zugeteilten Taktmengen, weitere Sequenzen darüber. Keine "Komposition" im eigentlichen Sinne also, aber dieser ungewöhnliche Entstehungsprozeß ist das letzte, woran man bei dem Stück "Warszawa" denkt, das einen noch immer auf die Knie sinken läßt – zeitgenössische Klassik eben.

Bowie hat sich auch in seinen Texten zuweilen der Cut-up-Methode bedient, auch für das "1. Outside"-Album, das so starken Einfluß auf David Lynch hatte ("Lost Highway"). Auf "1. Outside" erzählt Bowie zwar eine Geschichte, die Cut-up-Methode erlaubt es dem Autor einer Geschichte aber auch, der Geschichte dazu zu verhelfen, sich selbst zu erzählen und ihren Autor zu überraschen. Textsegmente arbeiten als Bedeutungsgeneratoren. Ein Titel des Albums lautet "The Hearts Filthy Lesson". Wer würde diese Worte schon zusammendenken? Nach dem ersten Schreck ergeben viele Dinge Sinn. Genau wie bei Träumen, und oft gleicht alles, was Cut-up-Methode gleicht, dem Vokabular von Träumen. Träume sind Cut-ups.

Aber zugegeben, es kommt sehr darauf an, wer sich dieser Techniken befleißigt. Grundsätzlich kann diese Technik natürlich schrecklich unsinniges Getröt produzieren, aber das gelingt auch Autoren, die sich ganz prometheisch sehen. Quod licet Bowie, non licet bovi.








Eliza:
 
Eben. Sich allein auf den Zufall zu verlassen, garantiert zunächst nur, dass was Zufälliges dabei rauskommt. 

Es muss ein gewisses, recht hohes Minimum an Gestaltung dabei sein, bevor mir der Ausdruck Kunst einleuchtet. 








Christian Erdmann:
 
Du kennst doch sicher Shaftesbury, den englischen Philosophen? (Ich meine den 3rd Earl). Der sprach vom Künstler / Schöpfer als "second maker", als "Prometheus under Jove". Der von mir oben angesprochene Typus wäre sozusagen "Cut-up-artist under Prometheus" (in einer Person).

Goethe hat von Shaftesbury den Begriff der "inneren Form" geklaut: die "inward form" des Kunstwerks / des Charakters / der vorbildhaft Teile zu einem Ganzen fügenden Natur. Wobei Shaftesbury für seine Zeit übrigens recht weit darin ging – sein Weg führte schon über das, was später deutlich als Begriff des "Erhabenen" erschien –, auch das "Dissonante" in diese "innere Form" einzugliedern. Die "innere Form" erlaubt vieles, eben auch Nutzbarmachung des Zufalls, Eingliederung sich selbst schaffender Bedeutungen etc., nur darum ging es mir, mein Respekt vor den Beherrschern der inneren Form ist grenzenlos.

Wenn poetische Sprache nicht auch zum Ziel hat, Vorstellungen davon, "was geht", hinter sich zu lassen, wozu dann überhaupt Poesie?


 





Stefan Möhler:
 
Der Künstler ist immer der zweite Schöpfer. Eigentlich eher ein Seher, der vermag, Dinge zu realisieren, die sich anderen eben nicht von alleine erschließen. Ob es ihm nun gelingt, diese Realisation für alle Menschen sichtbar zu machen oder nicht, ist dabei völlig unerheblich.

Immer ist ein Kunstwerk ein Aufruf zur Auseinandersetzung: mit eigenen Gedanken, Urteilen, Sichtweisen, Vorurteilen, eingefahrenen Denkstrukturen, Blindheit - letzten Endes mit sich selbst.

Wer dazu nicht in der Lage ist, und ja, solche Menschen gibt es tatsächlich, dem erschließt sich weder Kunst noch deren vielfältige Möglichkeiten der Rezeption. Daran werden weder Kunstwerke selbst noch Worte über dieses Faktum irgendetwas ändern können. Das kann man bedauern, aber nicht ändern.








Christian Erdmann:

Es spricht etwas aus dem Künstler, den Du "Seher" nennst, das er selbst nicht völlig kontrolliert, aber er muß versuchen, soviel Kontrolle wie möglich darüber zu gewinnen. Er muß das, "was geht", überwinden, und dieses "was geht" war nicht nur im Hinblick auf die Form gemeint, es ist immer auch das, was für die menschliche Realität bislang Gültigkeit besaß. Wäre der Künstler in glücklicher Übereinstimmung mit der Welt, wie sie ist, und den Konditionen, die sie stellt, würde er dann Kunst schaffen wollen? Das soll keine revolutionäre Pose der Kunst an sich beschreiben, aber ist der Künstler nicht immer der Träumer irgendeines "Anderen", selbst wenn der Unterschied zum affirmativ Säuselnden kaum noch spürbar sein sollte, auch die vehementeste Opposition zum Zeitgeist ist da vielleicht letztlich nur ein gradueller Unterschied, wiewohl die Skala derartige Unterschiede bereithält, daß vielen der Größten (Hölderlin, Artaud, Nijinsky etc) der Rückweg aus ihrer Kunst in die "normale Umgebung" nicht mehr gelang.

















Freitag, 8. April 2011

Ja was denn jetzt! (2)
























13 Fragen an Christian Erdmann auf netSkater.net








"Dieser Mann hat seine Hardcore-Fans, ganz ohne jede Frage: 'Sein Buch hat mein Leben verändert', wird schliesslich nicht jedem Schriftsteller nachgesagt ...

Christian Erdmann, Hamburger Jong, Fotograf, Frauenversteher, Katzenfreund und Autor des Buches 'Aljoscha der Idiot' im netSkater-Fragebogen-Outing des Monats Oktober."


















clic:

Donnerstag, 31. März 2011

Small Faces, vom 19. Jahrhundert her











Die klaren Eisnächte. Die Vermutung, Zobelmäntelchen und Hermelinmuff nur aufgrund eines trick of the light oder ähnlichem nicht wahrzunehmen, unnötig zu betonen, wie vertraut und wie bedeutend. Sloterdijk nennt die Gegenwart das Zeitalter des Versicherungswesens. Zurückschwingen des Zeitgeistes in die Präferenz der mittleren Situationen. Dagegen: das Abenteuer der intellektuellen Existenz im 20. Jahrhundert. Da ist was dran, denke ich, obwohl ich selbst manchmal das Gefühl habe, ich versuche immer noch von der ANDEREN Seite ins 20. Jahrhundert zu kommen, also vom 19. Jahrhundert her. Wie ja auch das eigentliche Verbrechen nicht der Diebstahl von Tagen für die Bücherdiebin ist, sondern von der anderen Seite her kommt. Äh, wo war ich? Jetzt mal was ganz anderes. Ich mag die Small Faces mit "Tin Soldier".









British Mod Culture von 4 schmächtigen Lads. Noel Gallagher: "The singer looked like he was miming someone else's voice. Because he had such a strong voice." Als ich ein Junge war, lebte irgendwo in der Nachbarschaft einer, der wie Steve Marriott aussah. Ging so in Samthosen und Stiefeln irgendwelchen tragisch aufregenden Dingen entgegen. Und immer wenn Jörg und ich die Singles aus den Plattenalben seiner Schwester Andrea hörten, wenn Andrea nicht da war, also diese Alben mit so Pferdebildern drauf und Plastikhüllen innen, dann waren die Small Faces mit das erste, was ich wollte. Weil die so Melodien hatten, die tragisch aufregenden Dingen entgegengingen. It's all too beautiful, 16.1.2010.



















Montag, 28. März 2011

Die Welt hat sich verändert, WEIL Gracq schrieb

















SPIEGEL ONLINE Forum "Literatur - Was lohnt es noch, zu lesen?"

10.08.2009 


river runner:
Was sagt der Künstler selbst?






Christian Erdmann:
Was soll ich sagen, außer, daß jeder auch sein eigener Schleusenwärter ist. Ich kann doch nicht entscheiden, wie jemand liest, was er liest, und warum, ob zur bloßen Zerstreuung, oder um abtauchen zu können in eine andere Welt als die, die ihn umgibt, und daraus Kraft und Inspiration zu schöpfen, oder um in Literatur etwas zu finden, das einem Schubkraft aus Sein in Unwahrhaftigkeit geben kann, oder um einfach Sprache zu genießen, oder um sich eine vertraute Geschichte neu erzählen zu lassen, oder um sich eine ungeahnte Geschichte mit vertrauten Worten erzählen zu lassen, oder um sich den Boden unter den Füßen wegreißen zu lassen, oder um sich Boden unter die Füße zu schieben, um sich bestätigen zu lassen, um sich Räume öffnen zu lassen, um einfach nur etwas über Zeiten zu erfahren oder über Charaktere, um sich erotisieren zu lassen durch das, was möglich ist, um mitzufühlen oder um amüsiert, mit interesselosem Wohlgefallen die Menschliche Komödie zu genießen, um Mantras daraus zu ziehen fürs Leben oder sich zu sagen, all das, all diese verschiedenen Beschreibungen der Condition humaine zusammengenommen, gehören zur Definition von "Realität", ob man sich auch via Literatur anfüllt mit dem Chaos, das man nach Nietzsche noch in sich haben muß, um einen tanzenden Stern gebären zu können, oder ob man gelassen Kunst schlürft, ob man dazu kommt zu fühlen, daß jemand, der 1871 schrieb, mehr Zeitgenosse sein kann als die Zeitgenossen, oder ob man über Rilke einen Essay schreiben muß, oder will, ob man sich was konstruieren lassen will oder lieber was dekonstruieren, ob man widerlegen will, daß man nach Sade-Lektüre zum Sadisten wird, oder es beweisen, ob ob ob und noch mehr ob – ich sagte schon, ich bin nur eine Billionstel Kalorie im Urknallsperma, alles, was ich will, ist, daß hier jeder weiter in die Manege schmeißt, was er für lesenswert hält, und daß keiner dem anderem vorschreibt, was er überhaupt für Literatur zu halten habe und wie er darüber spricht.







KLMO:
Damit hast Du fast alles gesagt - jeder nach seiner Fasson.






Christian Erdmann:
Gracq, "Witterungen II", bist Du durch, übrigens? Hatte Dir ja vom Sog erzählt, in den "Das Ufer der Syrten" einen zieht: ein derartiges Aufgehen in Wirklichkeit, daß es fast unwirklich ist; wie eine präzis beobachtende Trance. Habe vor ein paar Tagen gefunden, daß Gracq schon als Junge von geologischen Karten fasziniert war, die wie ein magischer Schlüssel auf ihn wirkten. Mit diesem magischen Schlüssel scheint er zu "sehen", Schichten von Wirklichkeit, die er in Bilder überführt, die zugleich extrem dicht und extrem klar sind: als hätte die Sprache selbst einen luziden Traum. Metaphern, die zugleich so präzise und so seltsam sind, daß man ahnt, was Gracq meinte, als er sagte, er sehe die Welt wie Novalis, es gibt keinen Bruch, nur "magische Entfaltung, die auf einer tiefinneren Umkehrung der Aufmerksamkeit beruht".

"Erst sehr viel später wurde mir wirklich bewußt, daß sie die Gabe besaß, mit einer Landschaft oder mit einem Objekt sogleich untrennbar eins zu werden. Allein ihre Gegenwart schien den Dingen die Befreiung zu schenken, die ein geheimer Wunsch erhofft, und sie zu sinnvollen Attributen zugleich zu erniedrigen und zu erhöhen."

Was der Protagonist Aldo da von dem Mädchen Vanessa sagt, trifft in gewissem Sinne auch auf Gracqs Sprache zu; man hat den Eindruck, als kehre seine souveräne Syntax ständig aus sonst unzugänglichen Bereichen zurück, als wäre er ein schwebendes Auge in einer Textur der Dinge, für die unsere eigenen Augen verklebt sind.

Sehr sympathisch auch seine Weigerung, an den Mechanismen des Literaturbetriebs teilzunehmen: "Für mich ist der Schriftsteller jemand, der schreibt. Ich habe keine Lust, mich vor meine Bücher ins Schaufenster zu stellen. Wenn das Arroganz ist, dann kann man da nichts machen."







ray05:
Nun, vielleicht ist ja Sprache für Gracq genau das, was die "Seele" für Platon war. Sie - Sprache bzw. Seele - sieht sich am Schönen, Guten, Wahren satt, das der Demiurg für sie aus der Urmasse herauswerkelt, wandert in den Autor zurück, der sich während des Schreibprozesses an all das Geschaute seiner Seele erinnert. Mit Schaudern. - Gefällt mir, das Bild ... :)







11.08.2009


Christian Erdmann:
Gestern nacht gelesen in "Das Ufer der Syrten", ein Friedhof, der für Aldo zum "unseligen Geist der Stadt" selbst wird:

"Zu ebener Erde erhielt sich diese gefräßige Stadt auf dem schwindelnden Gipfel eines Gerüsts aus Verkrüppelten, aus lebendig zurechtgehobelten Knochen. Sie war und blieb eine hauchdünne Membran, hochempfindlich, aber gänzlich von einem unerhörten Gewebeschwund befallen, sie verbrauchte ihren Lebenssaft bis zum letzten Tropfen, um Knochen, Knochen und Knochen abzusondern und unter der Erde im senkrechten Absturz eines Alptraums eine beständig wachsende Schicht aus Gebein zu formen, gleich geologischen Epochen breitete sie ein einziges gigantisches Gerippe aus."

"Im senkrechten Absturz eines Alptraums" – allein das.







19.03.2010


Achras:
Die Werke Julien Gracqs sind im Verlag Droschl vor einigen Jahren erschienen. Was darin "surrealistisch" anmuten soll, ist in Wirklichkeit nur schwerverdauliches Verfehlen treffenden Ausdrucks für das, was er in Worte zu fassen versucht... schade eigentlich!






Christian Erdmann:
Phantastisch! Abgesehen davon, daß Du vor ein paar Jährchen Julien Gracq hier noch als "sehr lesenswert" erwähnt hast: Du hast irgendeine Form von Being Julien Gracq hinter Dir und weißt jetzt, was er angeblich "in Wirklichkeit" in Worte zu fassen "versuchte", dabei aber regelmäßig den "treffenden" Ausdruck verfehlt hat? Phantastisch, einfach phantastisch! :)







Achras:
Natürlich gibt es Leser, für die die Lektüre Julien Gracqs eine völlig neue Leseerfahrung darstellt, daraus folgt jedoch nicht zwangsläufig, daß die Lektüre der "Witterungen" Gracqs wirklich für jeden Leser einen Gewinn oder einen Genuß darstellt...

Gern bestätige ich, daß es eine Phase gegeben hat, in der seine Werke mir eine inspirierende Abweichung oder Ablenkung vom "Literaturkanon" waren. Dennoch sind beträchtliche Teile dieses Lebenwerkes weder sonderlich erhellend für den "Geist des Surrealismus" in der Literatur noch erschiene es mir als angemessen, innerhalb des breiten Spektrums der (möglichen) Literatur überhaupt etwas als "zeitlos" oder "zwingend" zu rühmen...

Die Welt hat sich verändert, seit Gracq phantasierte...






Christian Erdmann:
Ändert nichts an der Anmaßung dieser Aussage: 

Was darin "surrealistisch" anmuten soll, ist in Wirklichkeit nur schwerverdauliches Verfehlen treffenden Ausdrucks für das, was er in Worte zu fassen versucht...

Nochmal: wo hast Du den Codex "Was Gracq tatsächlich in Worte zu fassen versuchte" gefunden? Wie wäre es, davon auszugehen, daß Gracq genau so schrieb, wie er schreiben wollte, und genau beschrieb, was er beschreiben wollte? Es gibt übrigens Menschen, die behaupten, Kafka wäre mehr Realist als die sogenannten "Realisten". Das könnte man selbst dann nur sinnvoll bestreiten, wenn man versteht und akzeptiert, wie es dazu kommt. Gracq ein "verfehlendes" Phantasieren zuzuschreiben, ist eher Indiz fürs Gegenteil. Es bräuchte keine Literatur mehr, wenn es einen Kanon des gefälligst zu Beschreibenden gäbe, den ein Autor zu erfüllen hat, um nicht eines "Verfehlens" geziehen zu werden. Gar besser als der Autor wissen zu wollen, was treffender Ausdruck sei – im übrigen bei einem Stil, der andernorts gerade dafür gerühmt wird, daß er durch äußerste Prägnanz gekennzeichnet ist –, wirkt auf mich dann aber doch schon kurios.

"Natürlich" gibt es Leser, für die die Lektüre Julien Gracqs eine völlig neue Leseerfahrung darstellt; ein neu entdeckter Autor ist eine neue Leseerfahrung. Es sei denn, man verstellt sich mit der – ohnehin nur angemaßten – Haltung des hartgesottenen Alleskenners den Blick. – Die Welt hat sich verändert, seit Gracq phantasierte? Die Welt hat sich verändert, auch weil Gracq schrieb. Daß Weltwahrnehmung in dieser Form möglich ist, ist die viel aufregendere Entdeckung gegenüber der Erkenntnis, daß man von "Surrealismus" sprechen kann oder auch nicht.

Und was soll das überhaupt, "die Welt hat sich verändert, seit" - ? Sind Lampenschirme jetzt Polizeibeamte? Ist Beethoven schlecht, weil es Nick Cave gibt? Das ist doch ein gar zu sehr unter Mißmutdrogen stehender Satz, den Du da schreibst. Es gibt zeitlose, die Menschen in der Tat zwingende Phänomene, die seit Jahrhunderten in immer neuen Anordnungen, Facetten, Sichtweisen Thema von Literatur waren und immer sein werden, die ganze Literaturgeschichte ist da ergänzendes Entbergen. Daß Literatur immer auch formal, unterm Stil- und Strukturaspekt rahmensprengend in den Bereich des Möglichen vordringt, wird sich ebenfalls hoffentlich nicht ändern, aber es gab einmal ein kluges Wort vom Stehen auf Schultern von Giganten.







20.03.2010


Achras:
Zitat von Julien Gracq:
"Bis in mein fünfzehntes Lebensjahr, und vermutlich weit darüber hinaus, war eines meiner Lieblingsbücher - neben den periodischen Zusendungen des Chasseur francais, worin ich die Streckenbeschreibungen für Radtouristen verschlang - ein veralteter Michelin-Führer, der auf dem Dachboden neben einer Sammlung des Vermot-Almanachs stand und so manchen Nachmittag eines unfreiwilligen Fastens ausgefüllt hat, an dem ich mich über keinen Jules Verne, keinen Fenimore Cooper hermachen konnte."

Der Guide Michelin war von seinen ersten Ausgaben an keine Lektüre für Fahrradwanderer...






Christian Erdmann:
... was in dieser Passage ja auch nicht behauptet wird:

"... war eines meiner Lieblingsbücher - neben den periodischen Zusendungen des Chasseur francais, worin ich die Streckenbeschreibungen für Radtouristen verschlang - ein veralteter Michelin-Führer, der auf dem Dachboden neben einer Sammlung des Vermot-Almanachs stand..."







Achras:
Und wenn Gracq in jungen Jahren diese Lektüre jeder anderen bisweilen vorgezogen haben mag, wieso verblieben diese Bücher auf dem Dachboden?






Christian Erdmann:
Da steht nur, daß er da stand. Eines der Lieblingsbücher meiner Freundin, so mit 12, war die von Lo Duca herausgegebene zweibändige Enzyklopädie der Erotik, Kurt Desch Verlag 1963, Exemplare nummeriert, die in der Bibliothek ihres Vaters stand.







Achras:
Aha. Was lernen wir daraus ...






Christian Erdmann:
Aha. Langsam verstehe ich.

Zitat von Julien Gracq:

Neben ihr aufgestützt, sah ich ihr schlafversunkenes Haupt wie von Welle zu Welle auftauchen, immer weiter von mir weggespült. Ich blickte um mich, fröstelnd allein in diesem aschenfarbenen Tag, der mit dem Widerschein des Kanals durch kalte Scheiben ins Zimmer sickerte. Was mich getragen hatte, war nun völlig versiegt, und selbst der Raum um mich schien sich zu leeren und wegzuströmen durch die nachtdunkle Schlucht eines Schlafes voll bedrückender Träume. In ihrer hochfahrenden Laxheit, überlegen leichtgesinnt, ließ Vanessa die hohen Türen ihres Gemachs beständig weit offen. Die zarte Asche des Dämmerlichts entsank der Glut dieser kurzen Tage, dumpfen Herzens lag ich matt auf den Laken, und über meine nackte Haut strich der kühle Hauch aus der Flucht der verfallenen Räume. In diese Höhle geduckt, waren wir von einem schon erstorbenen Wirbelsturm vergessen worden, aber wider meinen Willen lauschte ich in das sinnende Dunkel, als käme von fern her und wie vom Grund der horchenden Stille belagerter Städte das Tosen eines Massakers.

Was lernen wir daraus? Eben. Nicht einmal Vanessas Schuhgröße. Wir lernen höchstens, was Literatur ist bzw. was sie auch sein kann: Beschwörung dessen, was sich der Sprache vermeintlich zu entziehen scheint, der nahezu unauslotbaren Tiefe eines einzigen Augenblicks, einer einzigen Situation, eines einzigen Anblicks, jener Tiefe, aus der uns die Zeit, das ist ihr Auftrag, permanent fortreißt.







KLMO:
Aljoscha, was Du richtig beschreibst kann man nicht lernen! Entweder man hat es oder man hat es nicht. Den Rest kann man sich sparen.







21.03.2010


ray05: 
Die zarte Asche des Dämmerlichts entsank der Glut dieser kurzen Tage, [...] 

"Onkel Aljoscha Onkel Aljoscha, das hier kann überhaupt nicht stimmen, der Bericht lügt! In unserem Pfadfinderhandbuch steht ausdrücklich, dass Tage nicht brennbar sind. Und Licht wird auch in der Dämmerung niemals zu Asche."






Christian Erdmann:
"Auch Rosenkohl ist eigentlich mehr eine Rose als Kohl."
"Hoffnungsloser Fall! Ihm fällt nur noch Gemüse ein."

(Barks / Fuchs: Donald Duck - Pflanzenfimmel)